Avantgarde Spiritual Care

Auf ein Wort – Der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie, macht in seinem Blog auf unser Projekt aufmerksam.

Was erlebt ein Motorradfahrer, der seine Beine verloren hat, im Krankenhaus? Was sein Lebensgefährte? Was braucht die Mutter, deren Krebs zurück ist? Was fehlt der Neunzigjährigen auf der geriatrischen Akutstation, die Angst hat, nicht mehr nach Hause zu können?

In meiner Zeit als Klinikseelsorger bin ich oft Menschen in solchen Situationen begegnet. Zuhörend, schweigend, wenn gewünscht auch betend und segnend. Verzweiflung aushalten, Schmerz wahrnehmen, Trost spenden, wenn das möglich und dran ist. Vielleicht ein Glas Wasser holen, die Hand halten. Erspüren, was das Gegenüber jetzt braucht. Selten ging es um religiöse Frage, immer ging es um das Leben in allen Dimensionen.

Verzweifelte Menschen in existenziellen Krisen gehören zum Krankenhausalltag. So durchgetaktet und kosteneffizient er auch organisiert sein mag. Doch im Grunde stört diese Art der Bedürftigkeit die Krankenhausprozesse.  Darunter leiden alle Beteiligten, aber im Gesundheitssystem ist es ein blinder Fleck. Das soll sich ändern.

Genau hier setzt das unter anderem von Diakonie und Caritas, der DGP und dem DHPV angestoßen und von der Universität Witten-Herdecke wissenschaftlich begleitete Langzeitprojekt SpECi an. SpECi steht für Spiritual/ existential Care interprofessionell. Fernziel ist, den ganzheitlichen Blick auf den Menschen im ganz normalen Krankenhausalltag besser zu verankern. Und zwar durch eine standardisierte Qualifikation von Mitabeitenden in den Gesundheitsberufen. Derzeit ist das neu entwickelte Curriculum an Standorten von Diakonie und Caritas in der Test- und Evaluationsphase.

Ganzheitlichkeit schließt Spiritualität ein – und zwar weltanschauungsübergreifend. Das entspricht den Standards, die die Weltgesundheitsorganisation für die Pflege in der Palliativversorgung vorschlägt: spirituelle Gesundheit ist ein Aspekt eines ganzheitlichen Verständnisses von Gesundheit. Denn alle Menschen, auch Atheist:innen haben spirituelle Bedürfnisse. Oft kommen gerade sie erst in schweren Krisen mit dieser Dimension ihres Menschseins in Kontakt.

Auch als einer, der seit den 90erJahren der Hospizbewegung verbunden ist, hoffe ich sehr, dass die kostbaren Erfahrungen, die seitdem in der Begleitung sterbender Menschen gesammelt wurden, in nicht zu ferner Zukunft, auch in anderen Bereichen der Pflege ankommen können. Das ist hohe Zeit, denn nicht nur das Lebensende konfrontiert Menschen mit Fragen ihrer Existenz. Es dient der Gesundung, wenn mehr Menschen im Klinikalltag in die Lage versetzt werden, in solchen Situation kompetent beizustehen.

Klinikseelsorger:innen sind wichtig, unverzichtbar in den  Ausnahmezuständen auf Station, und oft leisten sie Erstaunliches – für Patient:innen, Angehörige und Mitarbeitende. Aber sie haben einen entscheidenden Nachteil: Sie können nicht überall sein.

Dazu kommt, die existenziellen Krisen erschüttern im Krankenhaus nicht nur den, dessen Lebensentwurf etwa durch eine Diagnose zerstört wird, sondern auch die Mitarbeitenden in der pflegenden, therapeutischen und medizinischen Versorgung. Denn es sind meist sie die allerersten Ansprechpartner nach der Katastrophe. Notfallseelsorgende – nur leider ohne Ausbildung. Ganz egal, ob Pflegedienstleitung oder Oberärztin, ob Physiotherapeutin oder auch Reinigungsfachkraft: Einfach weil sie genau dort arbeiten, wo einem Menschen seine bisherige Existenz zerbricht.

Man kann ihnen meist nicht vorwerfen, wenn sie darauf nicht angemessen zu reagieren wissen: Alle sind sie Opfer eines hochmodernen und gleichzeitig erschreckend menschenfeindlichen, oder dem Menschen entfremdeten Systems, in dem Begriffe wie Ganzheitlichkeit oder spirituelle Gesundheit Fremdworte sind und Professionalität zum Schutzpanzer erstarren kann.

Es ist leider Glücksache, ob ein schwerkranker, verzweifelter Mensch im Krankenhaus in seiner ganzen Existenz gehört und gesehen wird, oder ob er nur ein defekter Körper sein darf, der wieder funktionsfähig gemacht werden soll.

Dass sich das ändert, dass die Implementierung von Spiritual / Existential Care und dem entsprechenden Menschenbild in die medizinisch-pflegende und therapeutische gesundheitliche Versorgung gelingt, ist darum letztlich in unser aller Interesse.

Die SpECi-Erprobungsphase in acht großen deutschen Klinikkomplexen läuft genau jetzt, auch unter dem Dach der Diakonie: das Evangelischen Krankenhaus Alsterdorf ist dabei, die Johannesstift Diakonie in Berlin, die Betheler Altenhilfe Ostwestfalen, die Evangelischen Kliniken Essen Mitte und die Theodor-Fliedner-Stiftung in Mühlheim/Ruhr. Überall dort wird derzeit das neue 40-stündige berufsgruppenübergreifende SpECi-Curriculum umgesetzt, in die laufende Arbeit integriert und wissenschaftlich evaluiert. Im Spätsommer 2022 können wir dann genauer sagen, ob und wie es funktioniert hat.

Das Curriculum baut auf den vorhandenen Kompetenzen in der pflegerischen, ärztlichen, therapeutischen und hospizlichen und palliativen Versorgung auf, soll berufliche wie ehrenamtliche Mitarbeitenden, für die existenziellen und spirituellen Fragen im Zusammenhang von Krankheit und Sterben sensibilisieren und Kommunikationsfähigkeit Handlungskompetenz in diesem Themenfeld fördern.

Ich halte das für absolut zukunftsweisend, und ich bin auch stolz darauf, dass wir als Diakonie hier mit am Start sind. Wer sich der Spiritual Care widmet gehört genauso zur Avantgarde im Gesundheitsweisen, wie die, die den von Einsatz von KI in der Pflege erproben. Nur gemeinsam weisen sie einen Weg in die Zukunft. Strukturveränderungen, gesetzliche Grundlagen und Finanzierung wird folgen. Auch das zeigt die Erfahrung aus der Hospizbewegung. Gut Ding will Weile haben. Das Leben gewinnt immer, wenn die Schwachen, die Sterbenden nicht vergessen werden.